EINMAL MEHR ALS NUR REDEN

Im Februar 1984 bricht eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von österreichischen Aktivisten nach Nicaragua auf. Die Arbeitsbrigade "Februar 34" soll im Süden des Landes im Sinne der internationalen Solidarität mit den Sandinisten ein Gemeindezentrum errichten. Im Februar 1934 hätten sich in Österreich zum ersten Mal Arbeiter gegen den Faschismus zur Wehr gesetzt, erklärt einer der Teilnehmer, nun soll österreichische Arbeitskraft in Mittelamerika dem US-amerikanischen Imperialismus Einhalt bieten.
EINMAL MEHR ALS NUR REDEN ist zugleich Nacherzählung und Erlebnisbericht dieser Unternehmung, für deren Rekonstruktion Anna Katharina Wohlgenannt Archivmaterial dieser ungewöhnlichen Expedition mit aktuellen Interviews verbindet. Wenn man den Schilderungen der ehemaligen Aktivisten heute zuhört, fällt zuallererst die Unterschiedlichkeit der Gleichgesinnten auf: Nicht nur stammen die Anfang der 1980er Jahre jungen Frauen und Männer aus verschiedenen politischen Lagern, auch weichen ihre Eindrücke und Erfahrungen stark voneinander ab. Die österreichische Grenze zwischen Marxismus und Befreiungstheologie verliert sich historisch im nicaraguanischen Dschungel.
Es sind deshalb auch nicht die politischen und zeithistorischen Hintergründe, sondern die sich daraus ergebenden scheinbaren Nebensächlichkeiten und Auswirkungen, für die sich dieser Film interessiert: Wonach riecht es bei der Ankunft im Land der Revolution? Nach Holzfeuer. Und ist das historische Scheitern der Unternehmung nicht zugleich Voraussetzung für den individuellen Erfolg? Selbstverständlich. Denn das Herz der Jugend und der Verstand des Alters schließen einander nicht aus, wie einer der Teilnehmer am Ende weiß. Allein das zu lernen ist eine Reise nach Nicaragua wert. (Michael Pekler)



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Weitere Texte

Anna Katharina Wohlgenannt im Gespräch mit Silvia Burner (Interview)

Interview mit Anna Katharina Wohlgenannt, Regisseurin


Wie bist du auf die Idee gekommen, diesen Film zu machen?


Ich bin bei einer Recherche über gesellschaftliche Utopien im Internet auf einen kurzen Ausschnitt aus dem Film Sandino Vive von Helmut Stockhammer und Ilse Stockhammer-Wagner gestoßen. Weil mich diese Bilder sehr fasziniert haben, habe ich Helmut rasch zu einem Interview getroffen. Er hat mir Kontakte zu etlichen anderen TeilnehmerInnen der Brigade gegeben – woraufhin ich die Gruppe in ihrer Zusammensetzung dann nach und nach rekonstruieren konnte. Das Wunderbarste aber war, dass er mir gestattet hat, sein Material in meinem Film wiederzuverwenden. Er selbst hat dann EINMAL MEHR ALS NUR REDEN
leider nicht mehr sehen können, weil er im Frühjahr 2009 verstorben ist.


Dieses schöne Archivmaterial bildet jetzt auch eine Säule des Films. Neben zahlreichen Fotos von TeilnehmerInnen und Archivmaterial des ORF.


Das ORF-Material aus den 80er Jahren habe ich eingebaut, um den damaligen Zeitgeist spürbar werden zu lassen: Etwa den Auslandsreport, die Club 2- Diskussion und den Ausschnitt, der das Zusammentreffen des Papstes mit Ernesto Cardenal 1983 zeigt - ein inzwischen schon fast "geflügeltes Bild".


1984 haben sich weltweit Brigaden gebildet, die ihre Solidarität mit Nicaragua ausdrücken wollten - auch ÖsterreicherInnen brachen spontan auf.


Mein Film porträtiert die Brigade "Februar ’34", die als zweite österreichische Brigade nach Nicaragua gereist ist. Faszinierend für mich war, wie schnell, spontan der Entschluss damals umgesetzt wurde: Vom internationalen Aufruf der Sandinisten Ende 1983 über die Auswahl der TeilnehmerInnen bis zum Aufbruch der Brigade im Jänner 1984 vergingen nur wenige Monate. Beim Abflug wussten die BrigadistInnen nichts Genaueres über ihren Aufenthaltsort oder ihre Tätigkeit in Nicaragua – sprangen also sprichwörtlich in unbekanntes Gewässer. Schließlich landeten sie in Palma Africana, einer Plantage für Ölpalmen, wo sie eingesetzt wurden, um mitten im Urwald eine Anlegestelle und ein Kommunalzentrum zu errichten. Aus der Idee, die sandinistische Befreiungsfront zu unterstützen und durch ihre Anwesenheit ein Schutzschild gegen einen möglichen Angriff der USA zu bilden, wurde ein Erlebnis, das körperliche Arbeit und handwerkliche Fähigkeiten in den Vordergrund stellte.


Das Spannende ist, wie sich die Brigade zusammensetzt – Menschen mit verschiedenen Weltanschauungen und Berufen (Katholiken ebenso wie Kommunisten; Ärzte, Lehrer, Angestellte ebenso wie Studenten, Arbeiter, Pfarrer), die gemeinsam für eine Sache eintraten.


In der Art, wie die Brigade zusammengesetzt war, sollte sich die österreichische Solidaritätsbewegung im Kleinen widerspiegeln. Das stellte eine ganz schöne Herausforderung für die Organisatoren dar, weil in der Solidaritätsbewegung Vertreter aus zwei einander diametral entgegengesetzten Lagern aktiv waren - bekennende Christen ebenso wie überzeugte Altkommunisten. Geeint wurden sie letztendlich durch "Einmal mehr als nur reden" - dieser wichtigen Erfahrung: Einfach einmal konkret tätig werden zu können und mit körperlicher Arbeit einen Beitrag zu leisten.


Was war beim Drehen die Hauptfrage an die Interviewten, aus welchem Blickwinkel hast du gefragt?


Die Kernfrage, die ich allen gestellt habe, war, was sie dort gesucht haben - was der Impuls war, diese Reise überhaupt anzutreten. Und daran anschließend, was sie dann tatsächlich dort gefunden haben. Inwieweit das dann deckungsgleich war mit dem, was sie erwartet haben, oder wenn nicht, was das dann in ihnen ausgelöst hat.


Ich finde, der Film lebt auch sehr von dieser Skepsis und diesem Hinterfragen, wie wird eine Utopie gelebt, und wie ist sie übertragbar.


Man will wissen, was die Wahrheit ist oder das Gute. Eine Protagonistin hat das sehr schön auf den Punkt gebracht: In Nicaragua seien damals von Österreich aus gesehen die Fronten deutlicher gewesen – "der Feind" sei ebenso unverkennbar identifizierbar gewesen wie "die Guten". Und diese scheinbare "Klarheit" habe eine große Sehnsucht, eine Hoffnung auch ausgelöst – danach für sich selbst auch klarer zu sehen und weiterzukommen. Aber im direkten Erleben der Revolution haben die BrigadistInnen dann auch durchaus widersprüchliche Erfahrungen gemacht – sie mussten feststellen, dass es in Nicaragua nicht nur die Geschichte des revolutionären Kampfes, der Diktatur gibt, sondern auch,
um nur ein Beispiel zu nennen, die Geschichte des Machismo: dass es also ganz viele Ebenen gibt und dass das nie so ganz widerspruchslos und überwunden ist. Aber das hat sie nicht entmutigt. Darin hat sich für sie die Lebendigkeit des revolutionären Prozesses gezeigt.


Es ist auch ein Film über das Reden über sich selbst in einem anderen Lebensabschnitt - von den Interviewten werden 25 Jahre alte Fotos gezeigt - und sie sprechen darüber, wie sie sich selbst mit ihrer Weltanschauung damals akzeptieren können, und ihre Augen leuchten.


Das Erinnerungsvermögen ist bei jedem unterschiedlich genau ausgeprägt, und es gibt selbst zu einzelnen Ereignissen verschiedene Erinnerungen. Aber es scheint sich bei jedem eine fixe Erzählung gebildet zu haben, die das zusammenfasst, was wirklich biographisch wichtig ist. Dadurch, dass die Interviewten bis heute ein engagiertes Leben führen, haben sie schon eine klare Position dazu, wie sie dem jetzt gegenüberstehen. Ursprünglich hatte ich vor, die Leute sehr viel mehr situativ in ihrem Heute und Hier zu zeigen, in der Gegenwart. Beim Schnitt hat sich aber gezeigt, dass die Gespräche das Starke sind und sich darin der aktuelle Standpunkt am stärksten spiegelt.


Anna Katharina Wohlgenannt im Gespräch mit Silvia Burner

Pressetext lang

50 ÖsterreicherInnen reisen im Februar 1984 als TeilnehmerInnen einer Arbeitsbrigade nach Nicaragua. Ihr Motiv: Solidarität mit der sandinistischen Revolution, die von der Invasionspolitik der USA bedroht ist. Einen knappen Monat lang bauen sie unter schwierigen Bedingungen an einem Gemeindezentrum. Der Film erzählt von ihren Motiven für diese Reise und ihrer bis heute andauernden Sehnsucht nach einer anderen Welt.


How does a political vision change your life?


Österreich im Frühjahr 1984. 50 Männer und Frauen im Alter zwischen 20 und 65 Jahren begegnen einander in einem ungewöhnlichen Projekt. Unter ihnen Menschen unterschiedlichster Herkunft: Ein katholischer Priester ist ebenso vertreten wie ein kommunistischer Arbeiter; Mitglieder der SPÖ und der Alternativen Liste, GewerkschafterInnen, ChristInnen und AktivistInnen autonomer
Basisbewegungen...

Sie alle wollen sich in den Dienst des sandinistischen Nicaragua stellen - ist dieses Land doch seit dem Sieg über die Somoza-Diktatur 1979 zu einem Hoffnungsträger geworden. Zu einem Synonym für einen unabhängigen politischen Weg sowohl für die Neue Linke als auch für viele progressive Christen. Gemeinsam bilden sie die Brigade Februar ’34 (in Erinnerung an den österreichischen Bürgerkrieg 1934) und reisen im Februar 1984 für einen Monat nach Nicaragua, um dieses Land im
revolutionären Prozess aus der Nähe kennenzulernen.


Ausschlaggebend für diesen Aufbruch ist ein Hilferuf der sandinistischen Befreiungsfront FSLN Ende 1983: Als die USA einen Guerillakrieg der Contras gegen die sandinistische Regierung zu unterstützen beginnen und der Einmarsch amerikanischer Truppen kurz bevorzustehen scheint,
wenden sich die SandinistInnen an die internationale Solidarität. Weltweit bilden sich daraufhin unzählige Arbeitsbrigaden, die in das zentralamerikanische Land reisen, um dort an Bauprojekten mitzuwirken oder Erntehilfe zu leisten. Dabei ist die symbolische Handlung wichtig: Ein Schutzschild gegen die US-Invasionspolitik zu bilden und eine politische Stellungnahme für das „Modell Nicaragua“ darzustellen.


Ihre Expedition führt die Brigade Februar ’34 in eines der Kriegsgebiete im Süden des Landes, unweit der Grenze Costa Ricas, wo sie eingesetzt werden, um mitten im Urwald eine Anlegestelle und ein Kommunalzentrum zu errichten. Was haben diese Menschen dort gesucht – was haben sie gefunden? Wie geht es ihnen heute – da diese Revolution doch gescheitert, diese Träume geplatzt sind? Die ProtagonistInnen beschreiben ihre Erlebnisse und ihr damaliges Engagement erstaunlich nüchtern und humorvoll. Trotz aller Selbstironie wird offenbar: Diese Erfahrung hat sich für viele von ihnen richtungsgebend ausgewirkt für die eigene Politisierung und für ein bis heute anhaltendes Engagement für eine „bessere Welt“. Die Wünsche und Hoffnungen sind nicht verloren gegangen. Sie haben zwar ihre Gestalt, ihre Struktur verändert – nicht aber ihre Substanz.


„...die Grundgeschichte war diese Hoffnung von uns und von mir: Es gibt einen anderen Weg – ein Land, ein Leben, eine Gesellschaft so zu gestalten, dass die Leute selber die Verantwortung haben. Das war mein politisches Ziel und ich habe unglaublich viel Anzeichen gefunden im Zuge dieses Aufenthalts, wo ich mir gedacht habe – ja! Das glaube ich euch! So könnte es gehen!“ (Teilnehmerin der Brigade Februar ’34)

Einmal mehr als nur reden, von Gunnar Landsgesell, RAY 10/10 Print (Artikel)

Eine Gruppe österreichischer Idealisten reflektiert ihren Einsatz als Arbeitsbrigade in Nicaragua.

Im Jahr 1984 flogen 50 Österreicher und Österreicherinnen in einem Begeisterungsschub für die linksgerichteten Sandinisten (The Clash brachten immerhin ein Dreifachalbum heraus ...) nach Nicaragua. Dort zimmerten sie, des Spanischen kaum mächtig, ein Monat lang ein großes Holzhaus und boten sich als menschliche Schutzschilder gegen einen möglichen militärischen Angriff an.

Anna Katharina Wohlgenannt hat die Spontanreisenden von damals aufgesucht, um die Frage nach den Hintergründen und Motivationen aus zeitlicher Distanz beantworten zu lassen. Die Ergebnissse sind recht unterschiedlich, einig sind sich hingegen alle, dass das politische Engagement an ein hohes Maß an Naivität gekoppelt war. Zu Beginn setzt der Film aus den einzelnen Stimmen eine Art kollektiver Erinnerung zusammen, die später, mit der Beurteilung des Erlebten, zerfällt. Der sparsame Einsatz der grobkörnigen, ausgebleichten Filmmaterialien der Achtziger Jahre samt den darin eingelagerten Sehnsuchtspotenzialen setzt einen teils deutlichen Kontrast zu den Erinnerungsstrategien der Erzähler heute. Dabei ist die Frage, wer sich heute distanziert oder den Einsatz gerne noch verklärt, im Zusammenhang mit den heutigen Lebensverhältnissen der Aktivisten spannend zu beobachten. Eine Rekonstruktion der damaligen politischen Ereignisse liefert Einmal mehr als nur reden nicht. Es geht um subjektive Eindrücke, um Erinnerungsfetzen und ein Gefühl für eine politische Haltung, die sich so wohl nicht mehr so leicht zu finden scheint. Die Gespräche mit den Leuten wurden einzeln geführt, das Bild einer Gruppe entsteht also erst in der Montage. Dass die Rollen der Männer und Frauen nicht gleich waren, mussten einige erst in Nicaragua erkennen. Repetitive Arbeit war, so eine Erinnerung, großteils Frauen vorbehalten, während die Männer sich als Konstrukteure und Kreative gefielen. Dass die Aktivisten von damals aber nach Nicaragua gegangen waren, um auch dort ein progressives Gesellschaftsbild zu promoten, ist nur einer der Widersprüche, die sich in diesem Projekt auftun.

Mit wie viel Skepsis der Film dem offenkundig recht unkritischen politischen Aktionismus begegnet, bleibt offen. Das schafft Raum. Während bei einigen Erinnerungen vor allem der Abenteueraspekt und das Erstaunen über die eigene Bereitschaft dazu im Vordergrund steht, beweisen ein heutiger Bio-Greißler und eine namenlos bleibende Frau, zu der im Film Found-Footage aus der Hausbesetzerszene zugespielt wird, ausgeprägtes Reflexionsvermögen. Sie kommen der Frage nach den Möglichkeiten gesellschaftlicher Kritik gestern und heute am nächsten und machen den ironischen Gehalt des Filmtitels deutlich. Wer sich dafür interessiert, ist in diesem Film richtig aufgehoben. Jene, die ein Zeitdokument der Sandinista suchen, sind mit The Clash besser bedient.

(Gunnar Landsgesell, RAY 10/10)
Orig. Titel
EINMAL MEHR ALS NUR REDEN
Jahr
2010
Land
Österreich
Länge
72 min
Kategorie
Dokumentarfilm
Orig. Sprache
Deutsch, Spanisch
Untertitel
Englisch
Credits
Regie
Anna Katharina Wohlgenannt
Drehbuch
Anna Katharina Wohlgenannt
Kamera
Robert Neumüller
Kameraassistenz
Andreas Hagemann, Johannes Paul Heilig, Thomas Föger, Hans Schranz
Ton
Andreas Hagemann
Schnitt
Joana Scrinzi
Ton
Hans Schranz, Thomas Föger, Johannes Paul Heilig
Sound Design
Daniel Fritz
Dramaturgie
Wolfgang Widerhofer
Postproduktion
Matthias Halibrand
Produktion
Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion
Produzent*in
Nikolaus Geyrhalter, Markus Glaser, Michael Kitzberger, Wolfgang Widerhofer
Produktionsleitung
Claudia Wohlgenannt
Mitwirkende/r
Gerhild Trübswasser, Matthias Horvath, Herbert Sburny
Mit Unterstützung von
bm:ukk, Wien Kultur, Land Niederösterreich, Land Oberösterreich
Verfügbare Formate
Digital Betacam (Distributionskopie)
Bildformat
16:9
Tonformat
Dolby Stereo
Bildfrequenz
25 fps
Farbformat
Farbe
Festivals (Auswahl)
2010
Graz - Diagonale, Festival des österreichischen Films