Ich Muss Dir Was Sagen

Oskar und Leo sind Zwillingsbrüder. Weil Oskar gehörlos auf die Welt gekommen ist, wächst Leo nun zweisprachig auf - abgesehen von der Lautsprache unterhält sich die Familie auch in Gebärdensprache. Martin Nguyens Dokumentarfilm Ich muss dir was sagen nähert sich auf so behutsame wie einfühlsame Weise diesem familiären Kosmos an, der einerseits ganz gewöhnliche Abläufe, andererseits aber auch bestimmte kommunikative Erschwernisse kennt. Das reflexive Sprechen über Befindlichkeiten nimmt darin einen nur untergeordneten Platz ein. Wenn die Eltern Sandra und Stefan über die vergangenen zwei Jahre Auskunft geben, ist viel von der Trauer die Rede, die die Behinderung ihres Sohnes mit sich brachte, auch von der Überwindung, die es brauchte, sich darauf einzulassen. Nguyen ist allerdings vor allem an der Entwicklung der Gegenwart interessiert. Er richtet die meist unbewegte Kamera im Verlauf eines Jahres auf Alltagsszenen im familiären Miteinander und gibt dem Bild Vorrang vor dem Ton - mitunter behilft er sich dadurch, dass er den Sound diffus werden lässt. Der Film leistet insofern Übersetzungsarbeit: Kommunikation wird in Ich muss dir was sagen sichtbarer als sonst, und das gleich in mehrfachem Sinne. Die Mimik verdoppelt Gebärden wie auch das Gesprochene. Am Esstisch, im Sandkasten oder beim Herumtollen auf der Couch und im Garten wird anschaulich, dass die gestischen Ausdrücke den verbalen mehr als ebenbürtig sind. Es kann richtig laut werden in diesen Bildern, wenn zwei Sprachen zugleich gesprochen werden. Zeichen wirken unmittelbarer als Worte, sodass man mit der Zeit sogar den Eindruck gewinnt, der Familie besonders nahe zu kommen. Das Defizit, nicht hören zu können, tritt auf diese Weise immer mehr in den Hintergrund. Wer nicht zusehen kann, demonstriert dieser Film, der hört auch nicht viel.

(Dominik Kamalzadeh)


Die vierjährigen Zwillinge Oskar und Leo wachsen in einem mehrstöckigen Haus am Stadtrand Wiens mit einem weitläufigen Garten auf. In diesem vertrauten, familiären Umfeld steht der Anfang des Filmes. Hier sind die Kinder und ihre Eltern zu Hause. Hier startet auch die Langzeitbegleitung über den Zeitraum eines Jahres, welche die Entdeckungen und Lernprozesse von Oskar und Leo dokumentieren.



Der Regisseur Martin Nguyen beherrscht selbst die Gebärdensprache, wodurch eine kommunikative Annäherung zu den Kindern ohne Dritte möglich ist. Die direkte, wechselseitige Kontaktaufnahme und der Kommunikationsaustausch sind im Film spürbar und ein wichtiges Element – unterstützt durch eine intensive Zeit des Kennenlernens und des Aufbaus einer vertrauten Beziehung zu den Kindern und den Eltern.



Der Film geht auch der Frage nach, was die Diagnose „gehörlos“ für die hörenden Eltern Sandra und Stefan bedeutet. Das Cochlea Implant, das Oskar das Hören ermöglichen könnte, steht seit seiner Geburt zur Diskussion. Sie entschlossen sich jedoch, zunächst die Gebärdensprache selbst in Kursen zu lernen und ihre Kinder mit der für sie fremden Sprache aufzuziehen. Leo wird zweisprachig aufgezogen, mit Gebärden und der Lautsprache. Für Oskar hingegen ist die Gebärdensprache sein essentielles Ausdrucksmittel – seine Muttersprache.

(Synopsis)


Eine Welt ohne Töne.
Oskar und Leo sind zwei entzückende Zwillinge, nunmehr vier Jahre alt. Sie streiten um Spielzeug, ziehen einander an den Haaren, halten ansonsten fest zusammen. Wie eben die meisten Geschwister ihres Alters. Und doch unterscheiden sie sich grundlegend: Leo musste lernen, mit seinem Bruder in der Gebärdensprache zu kommunizieren. Die Eltern ebenfalls. Denn Oskar ist gehörlos auf die Welt gekommen. Aus der unterschiedlichen Sicht der Familienmitglieder wird nicht nur der Umgang mit der Behinderung dokumentiert, sondern vor allem der ganz persönliche Zugang zu einer völlig veränderten Lebenssituation. Dazu gehören Bewältigung der Trauer oder Akzeptanz des Unabänderlichen, nachdem die ärztliche Kunst nicht weiter helfen konnte. "Ich liebe dich, so wie du bist"- stimmig nahe gebracht.

(fan, In: WIENER ZEITUNG, 18.1.2007)


Musik aus der Lichtorgel
Zuerst ist da ein Alltag. Mutter und Kleinkind hören Musik. Musik hören, das heißt hier rhythmische, farbige Lichtsignale und die Vibration der Lautsprecherboxen wahrnehmen. Denn der dreijährige Oskar ist – anders als sein Zwillingsbruder Leo – seit seiner Geburt gehörlos. Wenn seine Mutter ihren Söhnen vorliest, dann ist das ein simultanes Sprechen und Gebärden, eine erweiterte Ausdrucksform, die ganz wesentlich auf Sichtbarkeit und Anschaulichkeit beruht.
Der knapp einstündige Dokumentarfilm von Martin Nguyen, der mit diesen Sequenzen beginnt, teilt diese Charakteristika. In langen, ruhigen Einstellungen konzentriert er sich aufs Beobachten (und Zeigen). Zwischen Aufnahmen aus dem Alltag der vierköpfigen Familie sind Gesprächspassagen montiert, in denen Eltern und Kinder ganz spezifisch und offen, in Laut- und Gebärdensprache, Auskunft geben:
Wie hat man die Mitteilung der Ärzte über Oskars Gehörlosigkeit ursprünglich aufgenommen? Von welchen Gefühlen und Erwartungen der Eltern ist sein Heranwachsen begleitet? Muss der zweisprachig aufwachsende Leo manchmal für seinen Bruder übersetzen? ("Was heißt das?") Oder: "Oskar, wann schimpft die Mama mit dir?" – "Wenn ich den Leo an den Haaren zieh."
Der Wiener Filmemacher, der die Gebärdensprache im Übrigen auch selbst beherrscht, bleibt dabei die ganze Zeit im Off. Er wirkt in diesem Kontext aber trotzdem fast wie ein fünftes Familienmitglied. Seine Anwesenheit scheint niemanden groß zu irritieren, am wenigsten die Kinder, die auch mit dem Mann hinter der Kamera ganz selbstverständlich kommunizieren.
Ich muss dir was sagen heißt denn auch der Film, der die Familie durch ein Jahr begleitet. Ein Jahr, in dem sich nach mehreren Untersuchungen entscheiden wird, ob Oskar durch eine Operation und ein Implantat ein gewisses Hörvermögen erlangen kann. Ein Jahr, in dem die Zwillinge ihren vierten Geburtstag feiern werden. Ein Jahr, in dem Oskar und Leo beim Sandspielen streiten, der eine aus der Hängematte fällt und der andere sich vor der großen alten Eule im Puppentheater fürchtet.
Ein familiärer Alltag, der sich – so könnte man je nach Perspektive und Situation meinen – gar nicht so sehr oder doch ganz gravierend von anderen unterscheidet. Das Einnehmende an Nguyens Films ist, dass er einen Blickwinkel wählt, der weder relativiert, noch problematisiert, sondern stets auch buchstäblich auf Augenhöhe bleibt und bei aller Nähe respektvolle Distanz wahrt.
Dass er nichtsdestotrotz ein Anliegen verfolgt, das sagt schon der Titel.

(Isabella Reicher, In: DER STANDARD, 18.1.2007)


siehe auch: presseheft als pdf

Orig. Titel
Ich Muss Dir Was Sagen
Jahr
2006
Land
Österreich
Länge
65 min
Kategorie
Dokumentarfilm
Orig. Sprache
Deutsch
Credits
Regie
Martin Nguyen
Drehbuch
Martin Nguyen
Kamera
Martin Nguyen, timtom
Ton
Nils Kirchhoff
Schnitt
Rosana Saavedra Santis
Ton
Wolfgang Mohaupt, Elisabeth Tarinkulu
Tonmischung
Hans Künzi
Tonschnitt
Nils Kirchhoff
Dramaturgische Beratung
Rolf Orthel, Judith Wieser-Huber
Darsteller*in
Oskar Badegruber, Leo Badegruber, Sandra Badegruber, Stefan Badegruber
Produktion
Mischief Filmproduktion
Produzent*in
Ralph Wieser, Georg Misch
Produktionsleitung
Peter Janecek
Produktionsassistenz
Fritz Ofner
Verfügbare Formate
Digital File (prores, h264)
Festivals (Auswahl)
2006
Viennale - Vienna Int. Film Festival
2007
Graz - Diagonale, Festival des Österreichischen Films
Nyon - Dokumentarfilm Festival
Edinburgh - International Film Festival
Seoul - International Family Film Festival SIFFF
2008
London - Disability Filmfestival