RELATIV EIGENSTÄNDIG

RELATIV EIGENSTÄNDIG ist ein soziales wie filmisches Experiment. Drei Jahre lang hat die Filmemacherin Christin Veith ihren jugendlichen Protagonist_innen Videokameras überantwortet und damit die Mittel, mit welchen sich die Youtube-Generation am besten selbst dokumentiert. "Es gibt viele Ausländer. Arnold Schwarzenegger war auch da", sagt die 14 jährige Carmen. Und wenn Dzenis, Sohn bosnischer Einwanderer von der Grazer Fröbelschule spricht, behauptet er, der einzige in der Klasse zu sein, der einen akzeptablen deutschen Wortschatz besitzt. Eine Straße weiter perfektioniert ein Pubertierender, Matthias, das Klavierspiel. Seine Mutter zahlt für seine Bildung. Er kann sich gut vorstellen, einmal Filmkomponist zu werden; sein Sound ist es auch, der die Filmmusik für RELATIV EIGENSTÄNDIG liefert.
Die Herkunft der Personen markiert den Ausgangspunkt dieser behutsamen und offenherzigen Coming-of-Age Dokumentation. Die eine Gruppe Teenager besucht eine private Schule, die zweite eine öffentliche Mittelschule mit hohem Migrant_innenanteil. Da ist der Vater LKW-Fahrer und die Mutter Putzfrau. Dort sind die Eltern Therapeuten oder Designer. Räumlich trennen die beiden Schulen keine 50 Meter. Dazwischen liegen Vorurteile, Träume, Ängste und letztlich Welten, die Christin Veith mit beeindruckender Leichtigkeit in einem gemeinsamen Filmprojekt der Heranwachsenden zusammenführt.

Die Teilnehmer_innen haben neben ihrem vertrauten Umfeld, auch das Terrain der unbekannten Nachbarschüler_innen mit der Kamera ergründet. Aus zögerlichen gegenseitigen Besuchen sind witzige, nachdenkliche Begegnungen geworden. Wackelige Annäherungen und kraftvolle Selbstinszenierungen sind dabei entstanden. In RELATIV EIGENSTÄNDIG verhandeln die Jugendlichen eigenmächtig, manchmal intuitiv und oft einnehmend reflexiv, die feinen Unterschiede in der Gesellschaft und Bildungspolitik. (Petra Erdmann)

Weitere Texte

Schüler filmen drei Jahre sich selbst, von Barbara Petsch, Die Presse, 22.10.2017 (Artikel)

Die Dokumentation "Relativ eigenständig" von Christin Veith ist filmisch unergiebig, aber sozial interessant.

Ich hasse Englisch. Mathe ist mein Lieblingsfach. In Deutsch bin ich der Beste der Klasse, der Einzige, der einen Wortschatz hat“, sagt der 14-jährige Denis. „Was soll das denn werden?“, fragt eine Mutter, als bei der Suppe die Kamera läuft. Aus dem Leben gegriffen, ohne Experten, Studien und andere Filter, erzählt „Relativ eigenständig“ von zweierlei Schul- und Lebenswelten in einer Straße in Graz, der Fröbelgasse. Die Modellschule ist ein privates Institut, das die Regisseurin des Films selbst besucht hat und das sich mit Kunst beschäftigt. Die Neue Mittelschule ist öffentlich.

Ausgangspunkt des Filmprojekts war Theater, was insofern interessant ist, als man sehen kann, wie sich aus dem Spielen das Filmen entwickelt. Die Kinder reagieren unterschiedlich: Ein Bursch will Geld für die Aufnahmen, ein anderer moniert, dass die Kamera nicht „Full HD“ ist. Drei Jahre lang wurde das Equipment von einem zum anderen Schüler weitergegeben, jeder macht, was er kann und so gut er es eben kann. Der Film ist ein ästhetischer Fleckerlteppich und erinnert an die bei Jugendlichen früher beliebte Lomografie: Billige Kamera, unscharfe Fotos, die u. a. durch Schwenks entstehen.


Nationalität ist weniger wichtig

Spannend ist, wie wenig die Jugendlichen in politische oder soziale Schubladen passen. Auf die Begabung kommt es anscheinend an, zu der auch Kommunikation und Schlagfertigkeit gehören, die Nationalität ist weniger wichtig als mancher Volksvertreter glauben machen möchte: „Er ist aus Bosnien oder Schweden oder was weiß ich“, sagt etwa eines der Mädchen. Wichtig ist der Effekt der Ortlosigkeit: Oft weiß man nicht, in welcher der beiden Schulen man jetzt ist. Wir lernen, dass Schulsysteme durchaus ähnlich sind, entscheidend ist kreative, kameradschaftliche Pädagogik, die sich stark von früherer unterscheidet, die auf Drill, Druck und Anpassung setzte. Da hat sich viel geändert.

„Willkommen“ steht in der Neuen Mittelschule auf vielen Schildern: auf Ukrainisch, Armenisch oder Ungarisch. Nur wenige Schüler sind Österreicher, was aber, zumindest in diesem Film, nicht heißt, dass die Stimmung feindselig ist. Eher herrscht in beiden Schulen das typische Gerangel unter Jugendlichen, vor allem zwischen den Geschlechtern funkt oder knallt es, wie das in der Pubertät so ist. Die Burschen sind durchaus nicht die Selbstbewussteren: Ich bin ein Loser, sagt einer. Ein anderer spricht über Facebook-Sucht, alle 15 Sekunden ein Posting. Und fast alle tanzen gern. Neigungen und Eigenheiten machen sich früh bemerkbar: Der Bub mit Brille, der wie ein Intellektueller ausschaut, spielt wunderbar Klavier. Und ein Mädchen mit schrillem Comic-T-Shirt sammelt Schuhe ein und erklärt altklug: „Was viele Leute nicht wissen, Ordnung ist das halbe Leben.“ Relativ eigenständig sind viele junge Menschen heute schon sehr früh, sie entwachsen der elterlichen Obhut – und Macht, vielleicht auch ein Vorteil. „Relativ eigenständig“, dieser sympathische, unprätentiöse Film, zeigt den Alltag, seine gemächlichen Seiten und wie man ihn, trotz neuer Lebensformen und Einflüsse, für ein gedeihliches Zusammenleben organisieren kann, wenn man nur möchte.

(Barbara Petsch, Die Presse, 22.10.2017)
Orig. Titel
RELATIV EIGENSTÄNDIG
Jahr
2017
Land
Österreich
Länge
66 min
Kategorie
Dokumentarfilm
Orig. Sprache
Deutsch
Untertitel
Englisch
Credits
Regie
Christin Veith
Konzept & Realisation
Christin Veith
Kamera
Andi Winter, Alle Schüler_innen der Theatergruppe "die Bäume"
Ton
Matthias Picher
Schnitt
Cordula Thym, Christin Veith
Produktion
FilmFilm
Produzent*in
Christin Veith
Mit Unterstützung von
Landesjugendreferat Graz, Stadt Graz, Land Niederösterreich, CINE ART, BKA - innovative film, Schauspielhaus Graz
Verfügbare Formate
DCP 2K flat
Bildformat
1:1,78
Tonformat
Dolby 5.1.
Bildfrequenz
24 fps
Farbformat
Farbe
Digital File (prores, h264) (Distributionskopie)
Festivals (Auswahl)
2017
Graz - Diagonale, Festival des Österreichischen Films (Diagonale Prize Editing (Documentary))
2018
Saarbrücken - Filmfestival Max Ophüls Preis