MUTZENBACHER

Mit einem Zeitungsaufruf lädt Ruth Beckermann zu einem Casting für einen Film ein, der einen bekannten pornografischen Text zur Grundlage hat. Der Film MUTZENBACHER konfrontiert hundert Männer mit Auszügen aus dem Roman „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“, in einer Zeit, in der Sex mehrdenn je allgegenwärtig ist, aber gleichzeitig auf ein moralisch hochgradig aufgerüstetes Umfeld trifft.

Seit mehr als hundert Jahren wird der Roman „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“ wegen seiner lustvollen Darstellung kindlicher und weiblicher Sexualität kontrovers besprochen. Anonym publiziert und über viele Jahrzehnte demösterreichischen Schriftsteller Felix Salten („Bambi“) zugeschrieben, wurde er zeitweise verboten und gleichzeitig als wienerische Literatur von Weltrang gefeiert. Mit einem Zeitungsaufruf lädt Ruth Beckermann zu einem Casting für einen Film ein, der den bekannten pornografischen Roman zur Grundlage hat: „Männer zwischen 16 und 99 Jahren gesucht“. Der Film MUTZENBACHER konfrontiert in einer ehemaligen Sargfabrik in Wien hundert Leser mit Auszügen aus dem Werk. Und wie im richtigen Leben evoziert die Lektüre „anstößiger“ Passagen auch am Filmset Erinnerungen, erotische Vorstellungen, aber auch Ablehnungsreaktionen, Distanzierungs- und Rechtfertigungsstrategien. Wir leben und lieben in einer Zeit, in der Sex mehr denn je allgegenwärtig ist, aber gleichzeitig auf ein moralisch hochgradig aufgerüstetes Umfeld trifft.

Weitere Texte

Ruth Beckermann - director's statement MUTZENBACHER

As a child in Vienna, I stumbled upon the story of Mutzenbacher relatively early. Like many others, I read it as an introduction to the practice of the art of love. You could find pirated editions in your parents’ nightstand or under the counter at a bookstore and finally, in the 1970s, as a paperback available everywhere. It fit right into the zeitgeist of the so-called sexual revolution, and yet it wasn’t even that modern. After all, the novel’s protagonist, a 50-year-old woman, recalls her childhood and youth towards the end of the 19th century. She tells of cramped living conditions in the Vienna suburbs, and of craftsmen and workers. Above all, it was her language, her Viennese peppered with countless expressions in dialect for sexual organs, indeed for the whole of sexuality itself, that were hardly in use anymore among my generation. And yet, in the Vienna of the 1960s, you could still feel the atmosphere of the novel, in the jostle around the communal water tap or in the unwanted intimacy of the other tenants in the apartment blocks, where the toilets were in the hallway. I especially remember the heat and confinement of the trams that in the summer brought us to the Old Danube, but also the freedom that we children had, while our parents busied themselves with reconstructing and achieving prosperity. And of course, all those expressions that you picked up here and there weren’t inhibited by any sense of shame or correctness. Today, sex is in all the media. At the same time, sex isn’t an issue. How can this be? Where does the way the Western world deals with sex originate from? In the 1970s, French philosopher Michel Foucault examined the West’s relationship to sexuality and came to the conclusion, “that what is peculiar to modern societies is not that they confined sex to a shadow existence, but that they dedicated themselves to speaking of it ad infinitum, while exploiting it as the secret.” The secret to be confessed in the confessional box, admitted before the policeman and shared in confidence with the doctor. The priest, the pope, the judge, the physician, and the media. With this film, I have tried, among other things, to break up – for a moment – this hegemony.- Ruth Beckermann, January 2022

Ruth Beckermann - Regie-Statement zu MUTZENBACHER

Als Wiener Kind stolperte ich relativ früh über die Geschichte der Mutzenbacher. Wie viele andere las ich sie auch als Einführung in die Praxis der Liebeskunst. Man fand sie als Raubdruck im Nachtkastl der Eltern oder unter dem Ladentisch eines Buchhändlers und schließlich, in den 1970er Jahren als überall erhältliches Taschenbuch. Sie passte in den Zeitgeist der sog. sexuellen Revolution und war doch so gar nicht modern. Schließlich erinnert sich die Protagonistin des Romans als 50jährige Frau an ihre Kindheit und Jugend gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie erzählt von engen Wohnverhältnissen in der Wiener Vorstadt, von Handwerkern und Arbeitern. Vor allem ihre Sprache, ihr Wienerisch, gespickt mit unzähligen Mundart-Ausdrücken für die Geschlechtsorgane, ja die Geschlechtlichkeit schlechthin, waren meiner Generation kaum mehr geläufig. Und doch spürte man im Wien der 60er Jahre noch die Atmosphäre dieses Romans, wenn man das Gedränge um die Bassena erlebte oder die ungewollte Intimität der Bewohner von Zinshäusern, wo sich die Klosetts am Gang befanden. Ich erinnere mich besonders an die Hitze und Enge in den Straßenbahnen, die einen im Sommer an die Alte Donau brachten, aber auch an die Freiheit, die wir Kinder hatten, deren Eltern mit Wiederaufbau und Wohlstand beschäftigt waren. Und natürlich waren die Ausdrücke, die man da und dort aufschnappte, von keinerlei Scham oder Korrektheit gehemmt. Heute ist Sex in allen Medien. Zugleich ist Sex kein Thema. Wie kann das sein? Woher kommt die Art und Weise, wie die westliche Welt mit Sexualität umgeht? Der französische Philosoph Michel Foucault untersuchte in den 1970er Jahren das abendländische Verhältnis zur Sexualität und kam zu dem bis heute gültigen Schluss, „dass die modernen Gesellschaften sich nicht dadurch auszeichnen, dass sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern dass sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen.“ Das Geheimnis muss im Beichtstuhl gestanden, vor dem Polizisten zugegeben und dem Arzt vertraulich mitgeteilt werden. Wer spricht also über Sex? Der Pfarrer, der Papst, der Richter, der Mediziner und die Medien. Mit diesem Film habe ich unter anderem versucht, diese Hegemonie für einen Moment aufzubrechen.

Orig. Titel
MUTZENBACHER
Jahr
2022
Land
Österreich
Länge
100 min
Kategorie
Dokumentarfilm
Orig. Sprache
Deutsch
Untertitel
Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch
Credits
Regie
Ruth Beckermann
Drehbuch
Ruth Beckermann, Claus Philipp
Kamera
Johannes Hammel
Schnitt
Dieter Pichler
Ton
Andreas Hamza
Produktion
Ruth Beckermann Filmproduktion
Produktionsleitung
Rebecca Hirneise
Produktionsassistenz
Eva Rammesmayer
Regieassistenz
Rebecca Hirneise
Mit Unterstützung von
Österreichisches Filminstitut, Filmfonds Wien
Verfügbare Formate
DCP 2K flat (Distributionskopie)
Bildformat
1:1,78
Tonformat
Dolby 5.1.
Bildfrequenz
24 fps
Farbformat
Farbe