Gibellina - Il terremoto

Das sizilianische Städtchen Gibellina wurde 1968 von einem Erdbeben zerstört und erst Jahre später in einiger Entfernung vom ursprünglichen Ort wieder aufgebaut. Die Errichtung des neuen Gibellina war kein herkömmlicher Wiederaufbau, sondern getragen von einer engagierten Utopie der Erneuerung: gegen die traditionellen Kräfte aus Bürokratie, korrupter Politik und sizilianischer Mafia.
Dieser politischen Utopie ist Joerg Burger mit seinem komplexen Städteportrait Gibellina – Il terremoto auf der Spur, wenn er das gegenwärtige Leben in Gibellina Nuova konfrontiert mit den Ideen, die zu seiner Ausgestaltung geführt haben. Er lässt dazu Repräsentanten des Ortes zu Wort kommen (den Bürgermeister, den Apotheker, den Pfarrer, ...), montiert Archivmaterial aus verschiedenen Phasen der Ortsgeschichte und veranschaulicht mit zahlreichen präzise komponierten Ansichten die moderne Architektur, die reichlichen Kunstobjekte und die weiten, leeren Räume der neuen Stadt.
Burgers Erzählweise und sein insistierender, verschmitzter Blick erschließen immer wieder neue überraschende Perspektiven: Gibellina - Il terremoto macht deutlich, dass die intendierte Erfolgsstory einer unter künstlerischen Vorzeichen entworfenen Stadt sich mit den Jahren zum städtebaulichen Fiasko entwickelte. Gibellina scheint heute ein "Ort ohne Zentrum und ohne Seele" zu sein, fehl geplant und voller sozialer Probleme. In groteskem Kontrast steht deshalb die Fülle der Skulpturen im öffentlichen Raum (das "größte Freilichtmuseum moderner Kunst Europas") zum akuten Bevölkerungsschwund und zur offensichtlichen urbanen Desolation: Wie kaum ein anderer Ort verkörpert Gibellina die Widersprüche der Moderne und ist selbst zu einem Monument des Scheiterns geworden.

(Constantin Wulff)


Die Erinnerung an etwas zu behalten, sei zwar wichtig, meint der pensionierte Bürgermeister des kleinen Ortes Gibellina, doch ebenso wichtig sei es, diese zu verlieren, um Platz für etwas Neues zu schaffen und andere Wege gehen zu können. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum die Reste das alten Gibellina heute unter einer meterdicken Betondecke begraben sind, obwohl die Erinnerungen der Einwohner an ihre ehemalige Heimat nicht verschwunden sind. Ein Jahr nach dem großen Erdbeben, welches das kleine sizilianische Städtchen 1968 ereilte, trat Ludovico Corrao sein Amt an, um das völlig zerstörte Gibellina achtzehn Kilometer entfernt neu aufzubauen. Zu Beginn sieht man ein einziges Mal Archivaufnahmen des Unglücks, wie Rettungsmannschaften verletzte Menschen und ein paar Ziegen aus den Trümmern holen, die notdürftig errichtete Zeltstadt, die in Wolldecken gewickelten Überlebenden.
Das neue Gibellina gilt heute als größtes Freilichtmuseum Italiens, wenn nicht Europas: Seit den 70er Jahren haben hier unzählige Architekten verschiedene moderne Skulpuren in der Landschaft und mitten im Ort platziert, um dem Gedanken Corraos, dass «die Kunst der eigentliche Motor der Energie des Menschen» sei, Folge zu leisten. Doch die Freude darüber, dass mit dem Neubau sich die Möglichkeit auftat, feudale, von der lokalen Mafia geprägte Strukturen zu überwinden und Gibellina ein kulturell geprägtes Leben einzuhauchen, sollte - wie sich auch bei Joerg Burger bald herausstellt - zum Scheitern verurteilt sein. Entstanden ist ein Ort ohne Zentrum und ohne Seele, Gibellina ist knapp vierzig Jahre nach dem Erdbeben und seinem Neubau dem sozialen Verfall preisgegeben.
In langen Einstellungen richtet Burger die Kamera auf die vor diesem Hintergrund beinahe monströs wirkenden Bauten und Skulpturen, die keine Touristen anlocken, sondern wie stumme Zeugen vom Niedergang des Ortes künden. Die weiße Kugel-Kirche von Ludovica Quaroni ist wenige Tage nach ihrer Fertigstellung 1972 bereits wieder eine Baustelle. Über die Zukunft wächst hier bereits wieder hohes Gras. Aber in ihr hätte der Pfarrer ohnehin nie die Messe gelesen.

(Produktionstext)

Weitere Texte

Pressestimmen (Kritik)

„Gibellina ist ein starkes, tragisches Klagelied über feudale Verhältnisse, die einer politischen Utopie das Wasser abgegraben haben, aber mit der Tragik auch die skurille Absurdität des Dorfes zeigt“ (Hilde Hoffmann / Duisburger Filmwoche)

„Es gibt wenige Filmemacher, die eine komplexe Geschichte so bündig und dennoch so detailreich erzählen können, wie Joerg Burger.“ (Vrääth Öhner: in: Kolik Film, 2007)

„Ein vielschichtiger, kluger, lustiger Film“ (Isabella Reicher / Der Standard)

Orig. Titel
Gibellina - Il terremoto
Jahr
2007
Land
Österreich
Länge
72 min
Regie
Joerg Burger
Kategorie
Dokumentarfilm
Orig. Sprache
Italienisch
Credits
Regie
Joerg Burger
Kamera
Johannes Hammel
Musik
Cicco Busacca, Antonia Busacca
Ton
Joerg Burger
Schnitt
Joerg Burger
Produktion
Joerg Burger
Verfügbare Formate
Digital Betacam (Distributionskopie)
Bildformat
16:9
Tonformat
Stereo
Bildfrequenz
25 fps
35 mm (Distributionskopie)
Bildformat
1:1,66
Tonformat
Dolby Stereo
Bildfrequenz
25 fps
Farbformat
Farbe
Festivals (Auswahl)
2007
Viennale - Vienna Int. Film Festival
Duisburg - Duisburger Filmwoche
2008
Linz - Crossing Europe Film Festival
Graz - Diagonale, Festival des österreichischen Films
Belgrad - FEST Int'l Film Festival
Thessaloniki - Int'l Documentary Film Festival
Pesaro - Film Festival
Spello - Flower Film Festival (Best Film)
Nyon - visions du réel - Festival Int. du Cinéma Documentaire
Helsinki - DocPoint Int'l Documentary Film Festival
2009
Oslo - Eurodoc Documentary Film Festival